REISEGENUSS

Der Mann war etwa Ende vierzig. Er hatte kurzes, graues Haar und ein helles, großnasiges Gesicht mit dünnen, tiefen Falten. Er stand vor mir in der Schlange in einem kleinen Supermarkt gegenüber vom Bahnhof St Pancras in London. Er trug eine orangene Sicherheitsweste, auf die er hinten mit schwarzem Edding geschrieben hatte. „UKIP“, stand dort, und darunter: „Save our country“.

Die „UK Independence Party“ ist grob gesehen das, was die AfD in Deutschland ist. Sie verkauft einen Nationalismus „aus der Mitte“, wirtschaftsliberal und gesellschaftlich konservativ. Sie ist nicht ganz dumpf rassistisch wie die British National Party. Letztere bittet die Wähler des häufigeren darum, doch lieber das Original zu wählen. Das UKIP-Gesicht war lange Zeit Nigel Farage, der so freundlich grinst wie ein guter Kumpel im Pub und sich tatsächlich auch gerne mit einem Pint in der Hand fotografieren lässt. Bei den Parlamentswahlen letztes Jahr enttäuschte UKIP mit nur einem Sitz trotz anständigen Stimmenanteils (möglich dank des repräsentativ sehr miesen englischen Systems). Farage verlor seinen Sitz in South Thanet (in Kent). Bei 12,7% Prozent der Stimmen ist dennoch klar, dass die Partei bei den Bürgern gut verankert ist. David Camerons Europapolitik ist teilweise UKIP zu verdanken, die von den Tories als ernste Konkurrenz eingestuft wird. Die UKIP bezeichnet Camerons EU-Deal als politisches Blendwerk (sie hat Recht). Sie fordert dazu auf, im Referendum für den Brexit und ansonsten doch bitte das Original zu wählen.

In Exmoor, im englischen Südwesten, haben meine Frau und ich Reihen von UKIP-Plakaten in die Kuh- und Schafsweiden gesteckt gesehen. In London sieht man von UKIP meist keine Spur. Ich hatte bis zu dem Tag noch nie jemanden gesehen, der sich offen zur Partei bekannt hatte. Ich konnte nicht anders, als mich persönlich angegriffen zu fühlen. Wenn UKIP davon spricht, das Land zu retten, warnt sie nicht vor den schmutzigen Horden deutscher Wissenschaftler. Allerdings bin ich brasilianischer Abstammung. Ich bin ethnisch sehr gemischt, und mehrmals haben mich Nordafrikaner für einen Nordafrikaner gehalten. Was denkt der UKIP-Mann in Weste, was denkt der Dresdner Montagsspaziergänger, wenn er mich sieht? „Noch so einer, der unser Land unterwandert“? „Noch so einer, der unsere Frauen bedroht“?

Ich arbeite in einer Blase. In meinem Gebäude am UCL arbeiten neben Engländern unter anderem Kollegen aus Malaysia, China, Finnland, Italien, Saudi-Arabien, der Schweiz, Spanien, Deutschland, Chile, Marokko und Kenia. An Universitäten wird diese Mischung begrüßt, gar gefeiert. Als Doktorand lebte ich unter einem Dach mit einer Japanerin und einem Syrer mit Freundin aus Myanmar. Eines Tages saß ich mit einem Engländer, einem Kanadier, einer Türkin und einem Marokkaner an einem Tisch und unterhielt mich über mathematische Ansätze, die zu erklären versuchen, wie menschliche Gehirne mit Komplexität umgehen. Als ich mir diese Nationalitäten bewusst machte, überkam mich eine echte Euphorie. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie sehr diese Konstellationen meinen Beruf zu einem Glück machen. In solchen Sitzungen steckt der Traum, dass Bildung und Aufklärung dem Hass und Vorurteil erhaben sind. Wir waren auf der Brücke der USS Enterprise: Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt, zusammen auf Forschungsreise.

Wenn David Cameron an einem Tag Abgeordnete, die gegen die Bombardierung Syriens stimmen, als „terrorist sympathisers“, und an einem anderen die Flüchtlinge in Calais als „a bunch of immigrants“ bezeichnet; wenn Deutsche nachts mit erhobener Faust „Wir sind das Volk!“ in einen Bus voller Asylsuchender schreien; wenn unter einem Bild mit ostafrikanischen Flüchtlingen mehrere Menschen kommentieren, dass sie „schwarz für Deutschland“ sehen; wenn diese Kommentare üblich sind auf der Webseite des einzigen Wochenblatts, dessen Auflage steigt, nämlich die der „Jungen Freiheit“; wenn ich Bekannte aus Facebook „entfreunde“, weil sie schon wieder Inhalte der Gruppe "Gegen die Destabilisierung Deutschlands“, deren Schwarz-Rot-Weißes Logo Parallelen zur NPD-Flagge aufweist, teilen; wenn ich höre, wie ein englischer Polizist, der auf eine Menge indischer Cricketfans blickt, zu seinem Kollegen sagt: "I hate brown people"; wenn mir eine Freundin mit pakistanischer Herkunft erzählt, dass sie in der Londoner Bahn beschimpft wird; wenn mir mein Gegenüber plötzlich im Gespräch erklären will, dass Perser schlauer seien als Araber; dann tut sich ein Riss in meiner Lebenserfahrung auf, von dem ich nicht weiß, wie ich mit ihm umzugehen habe. Aus dieser Verzweiflung heraus schreibe ich heute.

Viele, auch die clevere Organisation „hass hilft“, bezeichnen Pegida und Anhang als Nazis. Hitlerjünger und Holocaustromantiker gehören nachgewiesenermaßen auch in diese Gruppe, aber so einfach ist das nicht. Hitlervergleiche kommen nämlich auch von Pegida: „Seit Hitler hat kein Politiker so viel Schaden angerichtet wie Angela Merkel“, hieß es in einem Kommentar. Auch der Antiamerikanismus mit gleichzeitiger Bewunderung Russlands passt nicht so recht ins Nazi-Bild. Insgesamt folgt Pegida allerdings einem Narrativ, der gefährlich ist, weil er eng mit einem urrechten Mythos verwandt ist. Merkels Politik, heißt es, unterwandert das deutsche Volk und löst die deutschen Grenzen auf. Die Bundesregierung sei deshalb nicht legitimiert. Außerdem folge sie sowieso nur den Befehlen aus Washington. Fügt man die jüdische Weltverschwörung hinzu, kommt man zum Weltbild, dass Neonazis seit Jahrzehnten zu zeichnen versuchen. Dann ist man nur einen Schritt weg von der Theorie der Wurzelrassen und Nazi-UFOs. Die in den Demonstrationen geschwenkte Wirmer-Fahne passt in dieses Weltbild. Sie wurde zwar von späteren Hitlerattentätern entworfen, ist inzwischen aber auch in der Neonaziszene anerkannt als Flagge des „wahren Deutschlands“, das den Bürgern von höheren Mächten verwehrt wird.

Szenen wie die der letzten Wochen in Sachsen gibt es in England nicht. Soweit ich weiß, haben sich hier auch keine Bürgerwehren gebildet. Heißt das nun, dass England gesellschaftlich geerdeter ist? Ich bezweifle es. 2015, im Jahr von Höcke und Petry, von Angriffen auf Asylantenheime und der Lügenpresse, verkündete Cameron mit großem Trara, dass das Vereinigte Königreich über die nächsten fünf Jahre 20.000 syrische Flüchtlinge, wahrscheinlich sogar mehr, aufnehmen würde. Was würde hier in England passieren, wenn sich diese Zahl verfünfzigfacht?